Das Lidlose Auge

Kamera in der S-BahnEs ist morgen. Es ist Eiskalt, der Atem bildet Wolken. Wir Pendler stehen am Bahnsteig. Man sieht konzentriert aneinander vorbei, ins Nirgendwo. Der Zug fährt ein. Die Tür geht auf. Ich steige in den Zug ein, muss nur eine Station weit, daher bleibe ich im Türbereich stehen. Ein lidloses Auge glotzt mich an. Eine Kamera in der Mitte des Wagens, neben der Treppe zum Oberdeck. Genau da wo ich stehe.

Ich drehe mich zur Tür um, dann kann es meine Mütze anstarren. Ich trete einen Schritt zurück, so verdecke ich dem Auge das halbe Sichtfeld. Da, genau über der Tür glubscht mich ein weiteres Auge an. Ein kurzer Seitenblick verrät mir, von der anderen Tür beobachtet mich ebenfalls ein Auge. Den Gang durch den Waggon hinunter blickt mich das Gegenstück des Auges hinter mir an. Keine toten Winkel.

Ich versuche mich zu beruhigen: Da schaut vermutlich niemand drauf. Das wird vermutlich nur aufgezeichnet. Oder kann der Zugführer die Bilder sehen, so wie der Buschauffeur? Vielleicht guckt er drauf, wenn eine Tür nicht schliesst. Sonst hat er dafür sicher keine Zeit. Und es sind viel zu viele Kameras. Die kann er nie alle im Blick behalten.

Ganz unauffällig bleiben! Keine verdächtigen Bewegungen! Was für verdächtige Bewegungen? Ich will doch nur zur Arbeit. Ich habe doch gar nichts böses vor! Keine Panik. Wenn ich mich so verhalte als ob nichts wäre, falle ich sicher nicht auf. Du bist doch paranoid. Niemand beobachtet dich!

Die Kamera ist doch zu Meiner Sicherheit da. Wenn jetzt etwas passieren würde. Wenn es jetzt Abend wäre, und ich alleine im Zug mit Leuten die unter Hormonüberschuss leiden oder unter zuviel Alkohol stehen. Und diese sich Ihren Mut gegenseitig dadurch beweisen möchten, dass sie mich zusammenschlagen. Dann hätte die Kamera das gefilmt und man könnte ihnen das vor Gericht beweisen.

Aber dann wäre ich ja trotzdem zusammengeschlagen. Ein Kondukteur könnte mit einem Beherzten „He, was macht Ihr da!“ vielleicht das eine oder andere Mütchen kühlen. Oder im Ernstfall die Polizei rufen. Oder mir erste Hilfe leisten. Die Kamera kann das nicht. Was die nachher beweist, hilft mir nicht, wenn ich blutend am Boden liege.

Der Zug hält an. Die Tür geht auf. Das Auge hat wieder freies Blickfeld.

Update vom 10.02.2015:

Ha, heute morgen war auf meiner Linie eine alte Waggon-Komposition unterwegs. Keine Augen im Türbereich. Ich fühlte mich so Frei! *lacht-manisch*

Aber beim Aussteigen bemerkte ich dann die Kameras am Perron-Dach. Und im Bus hat es auch welche. :-/

Ein Gedanke zu „Das Lidlose Auge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert